TEXT: VERÓNICA ELIZONDO
FOTOS: PABLO HASSMANN
Mai 2020
Germán Restrepo Lucena ist Kolumbianer, lebt seit fünfzehn Jahren in der deutschen Hauptstadt, und leitet seit zehn Jahren ein mutiges Experiment: ein Antiquariat für spanische Literatur. Am Anfang stand das mythische Kunsthaus Tacheles in Mitte: Neuntausend Quadratmeter Ateliers, Werkstätten, Galerien -und auf dem Treppenabsatz die Buchhandlung von Germán. Im Laufe eines Jahrzehnts veränderte das Experiment seine Form. Heute ist La Escalera ein Buchladen und ein Treffpunkt im charmanten Stadtteil Prenzlauer Berg.
Germán wurde 1949 in einem Landhaus in Pereira geboren. Seine Mutter erinnert sich, in einer stürmischen Nacht, unterstützt von der Hebamme und ihrem Mann, einen knapp sechs Kilo schweren Jungen zur Welt gebracht zu haben. So kündigte sich Germans bewegtes Leben an, geprägt vom Reisen, Lesen und von Beziehungen.
Seine Familie väterlicherseits besaß eine der bekanntesten Zeitungen Kolumbiens. Dank der von seinem Onkel, dem Journalisten Camilo Restrepo, organisierten Versammlungen lernte Germán in seiner Jugend die verschiedensten Persönlichkeiten der kolumbianischen Kulturszene kennen: Dichter, Theaterregisseure, Künstler. Die Gespräche waren von hohem Niveau, und diese Begegnungen waren für ihn ein Quell der Enthüllungen und Kuriositäten.
Vielleicht wuchs in diesen Begegnungen Germáns Neugier und der Wunsch, hinaus in die Welt zu ziehen und sie kennen zu lernen. Er brach die Schule ab, um mit Indianerstämmen im Osten Kolumbiens zu leben, heiratete und wurde schon in jungen Jahren Vater. Als Lehrer lebte und arbeitete er in verschiedenen Städten Kolumbiens. Als eine Beziehung endete, beschloss er, sich neue Horizonte zu erschließen. Bevor er nach Berlin kam und sich dort niederließ lebte er in Brasilien, Italien, Frankreich und Venezuela. Er arbeitete als Redakteur, Handwerker, Kaufmann und Hilfsarbeiter. Er überquerte den Amazonas und sah die Annapurna aus nächster Nähe. Es ist nicht einfach, seine Erfahrungen zusammenzufassen, denn jede einzelne von ihnen lädt mich ein, über Germans ruhiges Leben zwischen den Büchern in Berlin nachzudenken.
Wann haben Sie beschlossen, Kolumbien zu verlassen?
Seit meiner Kindheit wusste ich, dass ich die Welt kennen lernen wollte und Bogotá verlassen. Als ich sechzehn Jahre alt war, starb mein Vater, ich verließ das Gymnasium und ging zu den Indianern in die Savannen am kolumbianischen Orinoko. Zur gleichen Zeit beschloss ich, weiter ins tiefste Kolumbien vorzudringen, ich ging zu Fuß nach Vichada (vom Regenwald bedecktes Departement im Osten Kolumbiens). Ich erinnere mich, dass ich zwei Bücher mitgenommen habe: „Menschliches, Allzumenschliches“ von Nietzsche und eine Anthologie kolumbianischer Dichter. Außerdem hatte ich von einem landwirtschaftlichen und wissenschaftlichen Projekt namens Gaviotas erfahren. Als ich von der einjährigen Reise zurückkehrte, hatte ich lange Haare, ging barfuß und hatte eine drei Meter lange Boa Constrictor in einem Sack dabei. Reptilien mochte ich schon immer.
Anschließend besuchte ich ein Internat und nahm zusammen mit einigen Freunden im Haus meines Onkels Camilo an den samstäglichen Mittagessen teil. Sie waren eine Art organisierte Konversationen mit verschiedenen Persönlichkeiten der kolumbianischen Kulturszene. Dieser Kontakt mit Kunst und Kultur gefiel mir unheimlich gut.
Es gibt eine enge Verbindung zwischen Ihrem Onkel, den Konversationen und La Escalera, kann das sein?
Mein Onkel Camilo war Journalist und Humanist und wurde mein Mentor, als mein Vater starb. Er leitete die Zeitschrift Cromos, importierte und belieferte das ganze Land mit den wichtigsten Zeitschriften wie Times, Reader’s Digest, Vogue, Life und anderen. Seine Bibliothek war beeindruckend. Dort habe lernte ich, Bücher zu lieben.
Dann traf ich die Frau, die die Mutter meines Kindes werden sollte. Wir zogen in eine alte Stadt, Suba, und dann in die Nähe von Bogotá, um dort zu leben. Wegen unserer begrenzten finanziellen Möglichkeiten mussten wir uns von saisonalem Gemüse und Milch von den örtlichen Milchviehbetrieben ernähren. Ich habe schöne Erinnerungen an diese Zeit auf dem Land an den Klang der Vögel und Grillen, die Nächte im Wald. Als die Zeit in Suba endete, war Simon bereits geboren, und wir beschlossen, nach Cartagena de Indias zu ziehen. Ich arbeitete als Lehrer in einem nahe gelegenen Dorf für das Projekt “Kooperative Schulen”. Aber dort gab es viel Korruption und ich wurde von den Mitarbeitern bedroht, die für die Projektgelder verantwortliche waren. Wegen der Probleme bekam ich eine neue Lehrerstelle in Cartagena de Indias, wohin ich mit meiner Familie umzog. Aber die Beziehung zu meiner Frau war zu diesem Zeitpunkt bereits zuende.
“Als ich von der einjährigen Reise zurückkehrte, hatte ich lange Haare, ging barfuß und hatte eine drei Meter lange Boa Constrictor in einem Sack dabei.”
Sind Sie nach Bogota zurückgegangen?
Als meine Familie zerbrach, verfiel ich in eine Depression, und es dauerte lange, bis ich darüber hinwegkam. Ich ging zurück an die Universität und belegte als Gasthörer einige Seminare in Anthropologie. Nach einem Jahr, zwischen 1974 und 1975, kehrte ich nach Suba zurück, das sich gerade auf dem Höhepunkt des intellektuellen und künstlerischen Lebens befand. Ich schrieb und produzierte Kunsthandwerk aus Leder. Ich habe damals nichts veröffentlicht, sondern nur für mich selbst und meine Freunde verrückte Dinge geschrieben. Als ich das Gefühl hatte, dass mein Projekt in Suba endete, fragte mich eine Freundin, warum ich Kolumbien nicht verlassen würde. Sie schlug mir Brasilien vor. Und 1976 beendete ich diesen Lebensabschnitt als Handwerker und Dichter und zog nach Brasilien. Während meiner Zeit dort hatte ich die Gelegenheit, zu reisen und fast ganz Südamerika kennen zu lernen.
Wie war das Leben in Brasilien?
Ich nahm Kontakt zu einem Verwandten auf, der ein Hotel am Ufer des Amazonas in Leticia nahe der Dreiländergrenze zwischen Brasilien, Peru und Kolumbien hatte. Ich wollte als Reiseleiter arbeiten und habe sogar mehrere Touren im Amazonas gemacht. Wir schliefen alle in einem großen Raum mit Hängematten und ich traf Menschen aus der ganzen Welt.
Dann beendete ich meine Arbeit im Hotel und setzte meine Reise nach Manaus fort. Ich ging an Bord eines Handelsschiffes, wo ich mich als Hilfsarbeiter verdingte. Die Reise dauerte zwei Wochen, weil wir zum Austausch von Produkten an jedem noch so kleinen Dorf anhielten. Ich kam mit einer gebrochenen Rippe in Manaus an. Die Stadt war wirklich etwas Besonderes -die Theater, Bibliotheken und diverse Museen über die Geschichte der Kautschukproduktion. Das Exotischste, was man sich vorstellen kann.
Ich nahm ein Boot zurück nach Santarém. Dort beginnt die Perimetral Norte, eine Straße im Grenzgebiet zum Amazonas. Die Route führte durch mehrere ziemlich gefährliche Gebiete, wie z.B. die Serra Pelada, wo es zu dieser Zeit einen Goldgräber-Boom gab. Wirklich gruselig! Ein gigantischer Krater und Männer, die körbeweise Erz ausbuddelten. Ich trampte von Tankstellen aus, in einigen habe ich sogar geschlafen. So kam ich nach Altamira und von dort nach Brasilia. Ich hatte gehofft, mit der kolumbianischen Botschaft Kontakt aufnehmen zu können. In Brasilia kam ein Lkw-Fahrer auf mich zu, der mich mitnahm und mich unterwegs bat, mit ihm zu sprechen, um ihn wachzuhalten. Bevor wir ankamen, gestand er mir, dass er Polizist war und Guerillakämpfer jagte, die sich in der Gegend versteckten. Er verabschiedete sich von mir mit dem Kommentar: “Möge dir Gott helfen -die Regierung hier steht auf Hippies wie dich.“
Im letzten Abschnitt wurde ich von ein paar hochrangigen Militärangehörigen mitgenommen. Auf den letzten hundert Kilometern bis zur Stadt erzählten sie mir vom Ursprung Brasilias, von der Architektur und so weiter. Ganz anders als der Rest der Militärs, die ich kannte. Ich habe drei Jahre lang in Brasilien gelebt, ein Jahr in Salvador de Bahia und zwei Jahre in São Paulo.
Salvador war ein Paradies: die Musik, das Klima, der Strand und die freundlichen Menschen. Ich ließ mich in einer Hippie-Gemeinde namens Arembepe nieder. Dann zog ich nach Embu im Bundesstaat São Paulo, einer Stadt voller Künstler und Handwerker. Es gab Messen und Menschen von überall her, insbesondere Exilanten aus den Diktaturen, Tupamarus, Argentinier und Chilenen. Ich widmete mich dem Handel mit Kunsthandwerk auf den Messen, verkaufte ñandutí [paraguayisches Kunsthandwerk] zwischen Paraguay und Brasilien. Es gibt viele Anekdoten aus dieser Zeit. Ich traf viele Menschen und knüpfte Bekanntschaften, die ich heute noch pflege. Ich führte damals sogar ein Notizbuch mit den Namen und Adressen der Personen.
Wann haben Sie sich entschieden, nach Berlin zu kommen?
1979 kam ich nach Europa. Corrado und Lidia, Freunde aus Rom, hatten mich nach Italien eingeladen. Sie besaßen eine Wohnung im Stadtviertel Testaccio und ein Haus in Calcata, ein halbverlassenes Dorf in der Nähe von Rom, das von Künstlern, Hippies und Prominenten neu besiedelt wurde. Ich pendelte zwischen diesen beiden Orten. In Rom arbeitete ich in der linken Zeitung Lotta Continua. Ich erinnere mich, dass ich einen Artikel über den Marihuana-Krieg in Kolumbien schrieb: “…Und in Kolumbien wird die Marimba (Marihuana) militarisiert”. Sie veröffentlichten meinen Artikel und bezahlten mich mit einem Ticket nach Berlin. Mein Freund Corrado reiste an meiner Stelle in die deutsche Hauptstadt und kehrte geschockt zurück. Er erzählte uns von der zerstörten Stadt und der Atmosphäre dort. Ich war beeindruckt. Das war mein erster Kontakt mit Berlin.
Erschöpft von meiner prekären beruflichen Situation beschloss ich 1980, nach Paris zu ziehen. Es war eine beeindruckende Stadt für mich. Ich hatte eine Freundin dort und entschied mich nach jahrelangem Herumreisen, zu bleiben. Ich beschloss, meinen Aufenthaltsstatus zu klären, kehrte nach Bogotá zurück und beantragte dort ein Studienvisum. Ich begann, Französisch zu studieren und dank eines befreundeten Kameramanns kam ich an eine Stelle in der Sorbonne. Meine Aufgabe war es, neue Studierende zu unterstützen, ihre Papiere durchzusehen und sie an der juristischen Fakultät der Sorbonne zu orientieren. Die Menschen kamen aus der ganzen Welt. Auf Empfehlung meines Vorgesetzten schrieb ich mich schließlich an der Universität ein. Auf diese Weise änderte sich meine rechtliche Situation in Frankreich und ich begann meine juristische Laufbahn. Das Verfassungsrecht und die Rechtsphilosophie faszinierten mich, aber der Rest ließ mich kalt. Außerdem hatte ich ein ziemlich umtriebiges Privatleben. Ich wohnte in der Vorstadt und zahlte kaum Miete, alle drei Monate 200 Francs Miete in einem quasi besetzten Haus. Ich lebte bis 1987 in Frankreich und kehrte dann nach Kolumbien zurück.
Wann war dein erster Besuch in Berlin?
Mein erster Besuch in Berlin ergab sich eigentlich aus Zufall. Nachdem ich Europa achtzehn lange Jahre verlassen hatte und in Kolumbien lebte, beschloss ich, zurückzukehren, um meine Schwester in Madrid und alte Freunde in Paris zu besuchen. Aus irgendeinem Grund konnte ich mit meinem Flugticket über Frankfurt fliegen, und so beschloss ich, für eine Woche nach Berlin zu fahren. Ich wohnte im Haus eines Freundes, der sich gerade in der Stadt niedergelassen hatte. Das war im Sommer 2003. Die Stadt zog mich sofort auf eine vertraute und zugleich distanzierte Art und Weise in ihren Bann. Die Ruinen der Vergangenheit, die in die Zukunft hineinreichen, die breiten, halbleeren und manchmal trostlosen Straßen; die alten Brücken, das langsame Tempo der Menschen, ihre Ungezwungenheit und Extravaganz, das Fehlen von Luxus und Konventionen… Damals konnte man durch die Innenhöfe der Häuser noch von einer Straße zur anderen gelangen, denn viele der Eingänge standen immer offen – man betrat und entdeckte eine verzauberte und geheime Welt.
Ich traf Sabine am Tag bevor ich die Stadt verließ bei einer Abschiedsfeier, die in einem geheimen Club organisiert wurde, einem Keller, in dem man nach dem Durchschreiten der Ruinen eines Gebäudes ankam, das während des Krieges bombardiert worden war. Man ging eine kleine Treppe hinunter zu einem Ort voller Menschen, Musik und Tanz. Wir waren eine kleine Gruppe von zwölf Personen und Sabine kam auf Einladung eines gemeinsamen deutschen Freundes. Am Ende der Party waren wir nur noch zu viert und dann nur noch zu zweit, also gingen wir zusammen zu ihr nach Hause. Sie war ein bisschen punkig und wir mochten uns auf Anhieb. Ein paar Stunden später ging ich und dachte, dass nur eine schöne Erinnerung bleiben würde. Aber die Geschichte ging weiter…
Sie hielten die Beziehung trotz der Distanz aufrecht…
Ja, wir blieben in Kontakt. Sabine reiste nach Kolumbien, um mich zu besuchen, und am Ende entschied ich mich, nach Berlin zu ziehen. Wir heirateten.
Man bewegt sich aus Liebe….
…oder weil eine Liebe zu Ende geht.
Wie ist das Projekt Escalera entstanden?
Erst im Jahr 2009, als meine Mutter starb, wurde mir so richtig bewusst, dass ich in Berlin lebe. Während der ersten Jahre in der Stadt reiste ich regelmäßig nach Bogotá, um mich um sie zu kümmern, während sie krank war. Das Haus meiner Mutter war mein Bezugspunkt, dort war mein Zimmer und meine Sachen. Weißt du, wenn deine Mutter stirbt… Was machst du da? Ich war jetzt hier, in Berlin, das war eine Tatsache. Ich wollte dann meine Erfahrung nutzen, um als Spanischlehrer zu arbeiten, aber die Situation in der Stadt war ganz anders als jetzt. Es gab einfach keine Nachfrage.
Ich versuchte dann, meinen Lebensunterhalt mit verschiedenen Dingen zu verdienen, verkaufte Empanadas, nähte… Was habe ich nicht alles versucht…
Eines Tages, ich war in Madrid, nahm mich der Ehemann meiner Schwester, mit dem wir immer Bücher und Empfehlungen austauschten, mit nach Majadahonda in der Nähe von Madrid und sagte: “Ich werde dir mal ein Geschäft zeigen, das du in Berlin versuchen solltest. Du bist doch ein guter Gesprächspartner, du magst Bücher und Menschen”. Er nahm mich mit in einen Secondhand-Buchladen im Dorf, mit einigen kleinen Tischen an der Tür. Dort saßen ein paar Männer, die Martini tranken und lasen. Die Besitzerin, eine nette Dame, war auch da. Und ich dachte mir: “Warum nicht?” Und so habe ich die Sache in die Wege geleitet. Aber trotz allem Enthusiasmus war das eine Investition und ich hatte kein Geld, oder nur sehr wenig. Irgendwie kam ich mit meiner Idee nicht voran. Bis eines Tages ein italienischer Freund aus Palermo vorbeikam. Es war mitten im Winter und wir hatten nichts Besonderes vor. Ich sagte zu ihm: “Komm mit, ich zeige dir einen tollen Ort.“
Das Kunsthaus Tacheles?
Das Tacheles. Es war sehr kalt und wir standen dann irgendwann mit den italienischen Bildhauern im Hof. Wir sprachen mit ihnen und fragten sie, wo wir einen Kaffee bekommen könnten. Sie wiesen in die Richtung von Victoria Prieto, Vicky. Es gab keinen Kaffee, aber wir tranken ein Bier mit ihr. Ich erzählte ihr von meiner Idee, eine Buchhandlung zu eröffnen und sie schlug vor, sie in ihrer Galerie zu eröffnen. Sie erzählte mir, dass im dritten Stock des Tacheles die Kunsthandwerker und Latinos waren. Sie hatten einen riesigen Saal. Diese Jungs waren herumgereist und hatten auf Messen ihre Produkte verkauft, genau wie ich. Schon bald sprachen wir mit Vicky über die Buchhandlung, konnten uns aber zunächst nicht auf die Öffnungszeiten einigen. Auf einmal kam mir ein Treppenabsatz im zweiten Stock in den Sinn, wo es ruhiger war und das Atelier von zwei Kollegen, Victor Landeta und José Uré, lag. Es gab eine Fußgängerbrücke gegenüber dem Bogen, der zum Kino führte, und im hinteren Teil befand sich das Atelier mit Blick zur Straße. Víctor und José unterstützten die Idee, die Buchhandlung dort einzurichten. Ich habe mit allen gesprochen und ihnen von dem Projekt erzählt. Sie waren begeistert und sagten, dass eine Buchhandlung genau das sei, was dem Tacheles noch fehlte. Sie haben mich akzeptiert.
Es gab einen Spind mit Gipsformen, den ich leerte, um die Bücher darin aufzubewahren. Ich fand eine große Holzplatte, die ich auf zwei Böcke legte, das war der Verkaufstisch. Darauf legte ich einen schönen roten Stoff, mit dem ich das Holz abdeckte.
“An die Stelle meiner Reisen trat für mich persönlich das Lesen. Ich verbringe meine Zeit zwischen Labyrinthen aus Wörtern und den Geschichten anderer Menschen.”
Und wie hast du den Buchladen aufgebaut?
Ich stieg in ein Flugzeug und flog nach Madrid, um Bücher zu besorgen. Ich machte eine große Einkaufstour, kaufte tausend Bücher, verpackte sie und schickte sie in einem Lastwagen nach Berlin.
Ich kam morgens im Tacheles an, holte die Bücher aus den Schließfächern, legte sie auf dem Tisch aus, und am Nachmittag wenn ich ging, räumte ich alles wieder weg. Ich erinnere mich an den ersten Kunden, der bei mir ein Buch gekauft hat. Ein Russe, der ein Buch von Mishima mitnahm. Er war glücklich, das Buch auf Spanisch gefunden zu haben, und ich war es auch. Mein erstes verkauftes Buch!
So ging es drei Monate lang, bis Victor, der sich das Studio mit José teilte beschloss, Berlin zu verlassen. Wir einigten uns darauf, dass ich Victors Teil des Ateliers übernehmen würde. Wir haben dort noch seinen Abschied gefeiert, viele Menschen und Freunde kamen. Und ich blieb dann in diesem Raum, bis das Tacheles geschlossen wurde.
Und lief der Verkauf gut?
Viele Touristen kauften Bücher, vor allem die Spanier, die überrascht waren, an diesem Ort ein Antiquariat für gebrauchte spanische Bücher vorzufinden. Sehr ungewöhnlich. Ich habe alle Bücher zum gleichen Preis verkauft, für fünf Euro. Das war meine Idee, um große Mengen zu verkaufen. Ein Buch, ein Preis. Für mich war das Tacheles ein Experiment. Ich wollte wissen, ob es funktionieren konnte.
Früher oder später kamen alle: Pepe Pizzi, die Bibliothekare des Cervantes-Instituts, Juan Pedro, alle. Sie wollten wissen, welche Kuriositäten in der Buchhandlung zu finden waren. Das Kunsthaus Tacheles war eine Fabrik des Wahnsinns und der Kreativität. Du hättest die Jam-Sessions sehen sollen…Die Musiker kamen aus der ganzen Welt, um im Tacheles zu spielen. Die Graffitis auf der Treppe… jede Woche veränderte sich das Kunstwerk. Es war erstaunlich, wie viel Leben an diesem Ort war.
Wann haben Sie erkannt, dass all das zu Ende gehen würde?
Im Jahr 2011 begann der Angriff von Bankern, Anwälten und privaten Sicherheitsfirmen. Sie wollten uns vertreiben. Die Bank, der das Haus gehörte und die wenige Jahre zuvor den 10-Jahres-Vertrag mit dem Künstlerverein abgeschlossen hatte, ging in der Krise 2008 pleite. Das Tacheles zahlte eine symbolische Miete von einem Euro pro Monat.
Ein Euro im Monat? 9.000 Quadratmeter für einen Euro im Monat?
Die Bank sah das als langfristige Investition. Die dachten, dass die Stadt sich weiterentwickeln würde. Damals war Berlin nicht die Stadt, die sie heute ist. Der Vertrag endete genau 2009. Als die Bank in Konkurs ging und zahlungsunfähig wurde, stellten sie die Immobilie zum Verkauf. Aber niemand wollte das Tacheles kaufen, solange die Künstler dort waren.
Hinter dem Kauf standen große Investoren, die Druck ausübten. Die Strategie bestand zunächst darin, Geld anzubieten. Rechtsanwälte mit Aktenkoffern kamen mit einem privaten Sicherheitsdienst in die Ateliers. Sie boten den Leuten Geld an. Als ich an der Reihe war, fragte ich sie, wer sie waren und warum sie hier waren, wenn das Gebäude doch dem Staat gehört. Sie haben sich aufgeregt und sind gegangen. Aber sie kamen zurück, denn es gab etwa 50 Ateliers, mit denen sie verhandeln wollten. Dann setzten sie mich unter Druck. Sie heuerten eine Truppe ähnlich den Hells Angels an, die in Schwarz gekleidet, gepanzert und auf Motorrädern unterwegs waren. Sie kamen in Gruppen, um uns einzuschüchtern, es kam zu Gewalttätigkeiten mit den Menschen dort. Unterdessen kauften sie Galerien und Ateliers. Nach und nach übernahmen sie alles. Und am Ende haben sie uns das Wasser abgestellt.
Für mich war das Tacheles ein Haus, das Künstlern Unterschlupf bot, aber nur für eine Weile. Sie konnten nicht ewig dort bleiben, denn was sollte sonst mit den anderen passieren? Das Haus hatte seinen Charakter verloren. Es gab einige Leute, die sich einen Platz unter den Nagel gerissen hatten und nicht mehr gehen wollten. Wenn sie gingen, schlossen sie ihr Studio für Jahre ab und kamen dann irgendwann zurück. Letztendlich werden die meisten Menschen irgendwann korrupt. Für mich war es aber klar, dass ich nicht für immer dort bleiben würde. Es ging mir mehr um die Erfahrung, um das Experiment, darum, zu sehen, ob das Antiquariat funktionieren würde. Ich wusste sehr wohl, dass ich irgendwann da raus musste und einen „normaleren“ Laden öffnen. Genau das habe ich dann auch versucht.
Und zwar?
Im Jahr 2012 schloss ich mich mit drei katalanischen Schwestern zusammen und wir eröffneten eine Buchhandlung mit einem kleinen Bistro in der Nähe der Warschauer Straße. Am Anfang ging es uns sehr gut, weil der Ort boomte, Familien und Studenten kamen, um zu trinken und zu essen… Aber mit der Zeit veränderte sich das Konzept immer mehr. Die Situation war sehr kompliziert und letztendlich sind wir als Geschäftspartner nicht im Guten auseinander gegangen. Im folgenden Jahr und ohne das Projekt hing ich nur noch herum und verfiel in eine regelrechte Depression. Sabine half mir und ermutigte mich, die Buchhandlung weiterzuführen. Wir suchten einen Ort und fanden ihn in der Nähe unserer Wohnung. Im März 2014 eröffneten wir La Escalera im zweiten Innenhof der Kopenhagener Straße 73.
Welche Veranstaltungen gab es an diesem neuen Ort?
Im Jahr 2015 begann der Schriftsteller und Rechtsanwalt José Luis Pizzi La Escalera zu besuchen. Mit der Zeit wurde er für die Buchhandlung aktiv. Er organisierte vor allem literarische Treffen und andere Veranstaltungen. Sein Charisma trug dazu bei, La Escalera bekannter zu machen und zu einem Bezugspunkt in der spanischsprachigen Szene Berlins. An dieser Stelle möchte ich meine Anerkennung für seine Arbeit zum Ausdruck bringen.
Wie sieht Ihr Leben heute aus, nach so vielen Abenteuern und jetzt inmitten von Büchern?
In Berlin ein Antiquariat auf Spanisch zu betreiben, ist in gewisser Weise ein Widerspruch in sich. Antiquariate leben von Büchern, die die Leute aussortieren, aber hier in Berlin werden nur wenige spanische Bücher aussortiert. Daher ist die Auswahl und Beschaffung von Büchern eine mühsame Aufgabe. Ich wähle die Bücher Stück für Stück aus, wenn ich in Spanien bin. Ich arbeite nicht mit Verlegern oder Bestsellern.
An die Stelle meiner Reisen trat für mich persönlich das Lesen. Ich verbringe meine Zeit zwischen Labyrinthen aus Wörtern und den Geschichten anderer Menschen. Mein Alltag spielt sich zwischen meiner Wohnung und dem Buchladen ab. Und die Nachrichten aus der Welt bekomme ich von den Besuchern von La Escalera, mit denen ich oft lange und inspirierende Gespräche führe.
Der Katalog der Buchhandlung La Escalera ist auf ihrer Website einsehbar. Man kann auch direkt über La Escaleras Facebook-Seite kommunizieren.